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Die Götterdämmerung in Wien

Für Heiner Müller. Von Alexander Kluge.

»Die Art, wie das 20. Jahrhundert sich Musik aneignet«
Gerard Schlesinger, Cahiers du Cinéma

»Was nicht gebrochen wird, kann nicht gerettet werden«
H. Müller, Grausame Schönheit einer Opernaufzeichnung


Im März 1945 war die Metropole Wien von sowjetischen Stoßtruppen umstellt. Nur nach Norden und Nordwesten bestand noch Landverbindung zum Reich. In diesem Moment befahl der Gauleiter und Reichsverteidigungs- Kommissar Baldur von Schirach, Herrscher der Stadt, eine letzte Festaufführung der "Götterdämmerung". In aus-
sichtsloser Lage der Stadt und des Reiches sollte die von Richard Wagner komponierte Verzweiflung der Nibelungen (aber auch die in den Schlußakkorden enthaltene Hoffnung auf Wiederkehr) über alle Sender des Südostens über-
tragen werden, sofern diese in deutscher Hand waren. "Wenn schon das Reich untergeht, muß uns die Musik doch bleiben." Die seit Oktober stillgelegte und allseits ver-
riegelte Oper wurde wieder aufgeschlossen. Orchester-
mitglieder wurden von den Fronten in die Gauhauptstadt geschafft. Am Vorabend der Hauptprobe I (mit Orchester und Kostümen, aber ohne Brand Walhalls im Dritten
Akt, die Generalprobe sollte dann vom Rundfunk aufge-
nommen und übertragen werden, auf eine Premiere wurde verzichtet) flogen US-Geschwader von Italien nach Wien und bombardierten das Zentrum. DIE OPER BRANNTE AUS.





Nunmehr übte das Orchester in Gruppen, aufgeteilt auf verschiedene Luftschutzkeller der Stadt. Die linke Orches-
terseite arbeitete in fünf Gruppen in Kellern der Rings-
straße; die rechte Orchesterseite einschließlich Pauken in vier Kellern der Kärntner Straße sowie in Nebenstraßen. Die Sänger waren auf die Orchestergruppen verteilt. Sie sollten versuchen, "wie Instrumente" zu singen. Zuzuordnen waren sie einander nicht, da sie ja in verschiedenen Kellern sangen. Der musikalische Leiter saß, zunächst anschlußlos, im Weinkeller einer Gastwirtschaft, war jedoch bald mit sämtlichen Kellern durch Feldtelefone verbunden.

Artillerieeinschläge im Umfeld. Während der Proben fanden zwei Tagesangriffe der US-Luftstreitkräfte statt. Eigene schwere Artillerie war in der Nähe eingegraben und schoß sich auf sowjetische Fernkampfgeschütze ein. Infanteristen und Eisenbahner waren als Läufer den probenden Musikern beigestellt. Die so überbrachten Nachrichte wurden ergänzt durch Feldtelefone, die nicht nur den Dirigenten mit den Orchesterteilen, sondern auch diese untereinander ver-
knüpften. Das über Standleitung hergestellte Klangbild der Übungsnachbarn wurde über Lautsprecher jeweils ver-
stärkt. Im groben Umriß konnten so die Musiker die Klänge der von ihnen getrennt spielenden Klangkörper registrieren, während sie selbst die Teile der Partitur probten, für die sie zuständig waren. Später ging der musikalische Leiter dazu über, von Keller zu Keller zu eilen und Instruktionen vor Ort zu geben. ES SIND VÖLLIG ANDERE RÜCKSICHTEN ZU NEHMEN, SAGTE ER, ALS BEI EINER HAUPTPROBE UNTER ANWESENDEN.

Es ergab sich auch ein anderes Klangbild. Die Geräusche des Endkampfes um Wien waren nicht auszufiltern, die Orchesterfragmente ergaben keinen einheitlichen Klang. Da die Wiener Brücken bedroht waren, gab der befehlsführ-
ende Generaloberst Rendulic an den Stab des Reichsvertei-
digungskommissars eine Warnung durch. Der Abtransport der Sänger und Orchestermitglieder in den Westen Österreichs müsse vorgezogen werden, wenn man sie retten wolle. Man könne deshalb nicht auf die Hauptprobe I warten, sondern müsse improvisieren. Daraufhin befahl der Reichsverteidigungskommissar, ein noch junger Mann, daß die Rundfunkaufnahmen des bis dahin erarbeiteten Klang-
bildes sofort, d.h. noch am gleichen Tag, durchzuführen seien, Die funktechnische Aufnahme der "Fragmente" der "Götterdämmerung" begann deshalb um 11.30 Uhr mit der ersten Szene des Dritten Aufzugs (Siegfried und die Rhein-
töchter).





Es wurde bis zu Schluß der Dritten Szene des Dritten Aufzugs durchgespielt. Anschließend sollten die Aufzüge 1 und 2 des Musikdramas nachgezogen werden. Beabsichtigt war die Zusammenstückelung im Rundfunkhaus oder aber, nachdem die Originalbänder aus Wien herausgeflogen wären, die Zusammenfügung und geschlossene Übertra-
gung des Werkes vom Reichssender Salzburg aus.

Es war aber DURCH ZUFALL noch dreitausend Meter 35-mm-Agfafilm-Farbmaterial in der Stadt Wien gelagert. Oberstleutnant i.G. Gerd Jänicke, der die ihm unterste-
henden viert Propaganda-Kompanien in den belagerten Raum Wien zusammengezogen hatte, ging von der festen Absicht aus, das Unglück der Stadt zu filmen. Jetzt konkretisierte er seinen Entschluß. Er befahl, die Orchester-
leistung in Bild und Ton festzuhalten, und zwar ohne Rücksicht auf das Kamerageräusch, da ein Blimp nicht zur Verfügung stand. Jänicke schien die Aufnahmen des letzten Aufzuges der "Götterdämmerung" ein krönender Abschluß einer seit sieben Jahren andauernden hingebungsvollen Chronisten- und Propagandatätigkeit. Es gab nichts zu beschönigen, ein Durchhaltevermögen war zu dokumen-
tieren, das das festhielte, was mit dem Deutschen Reich nicht zugrunde gehen würde: die deutsche Musik.

Mit fünf Kameras und jeweils verbundener Tonapparatur wurde der Dritte Akt und Teile des Ersten Aktes aufgezeichnet. Als Lampen wurden Flakscheinwerfer aufgestellt: sie strahlten an die Kellerwand und gaben ein grelles, indirektes Licht. Für den vollständigen Eindruck waren robuste Improvisationen erforderlich: so wurden die von den Aufzeichnungsgruppen nicht erfaßten Sänger und Orchesterteile anderer Keller über Funksprechgeräte in die Aufführung übertragen und auf 17,5-Perfo-Bändern gespeichert; sie wurden später in die Mischung eingespielt. Nachdem man sich beim Dritten Aufzug/Erste Szene noch um einen Gesamtklang bemüht hatte, ging man bei den Szenen 2 und 3 des Dritten Aufzuges dazu über, die Fragmente den Zuhörern hintereinander vorzustellen. Man hörte und sah diese Szenen in der Aufzeichnung neunmal hintereinander: Jedesmal ging es um die lärmende Teilgruppe der Partitur, die in dem betreffenden Keller geübt wurde. Die zivile Leitung des Rundfunks Salzburg legte die institutionelle Feigheit an den Tag, wie sie für Rundfunkanstalten typisch ist. Sie hielt die aus mehreren ungleichen Teilen zusammengebaute Tonaufnahme der "Götterdämmerung", deren Eingang sie quittiert hatte, aus "Qualitativen Gründen" nicht für sendefähig. Sie war durch Telefonate mit dem Stab des Reichsverteidigungskommis-
sars in ihrem Urteil nicht umzustimmen. Als kommt es in dieser Lage des Reiches auf irgendeine friedensmäßige Aufzeichnungsqualität an!, sagte der für die Operation zuständige Offizier im Stab von Schirachs, Hauptmann von Tuscheck. Doch die zivile Sendeleitung in Salzburg blieb unerschütterlich. Sie sendeten eine Konserve des Dritten Aufzugs der "Götterdämmerung" und anschließend, bis zur Übergabe von Salzburg, nur noch Märsche.

Lesen Sie weiter > Götterdämmerung, Teil 2



Stand 30.04.2004 11:58
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